In Baden-Württemberg entsteht ein Innovationspark für Künstliche Intelligenz, der auch Reallabore für wertschöpfungsstarke Zukunftstechnologien bereitstellen soll. Doch was genau sind eigentlich Reallabore? Allgemein erklärt, dienen diese dazu, neue Ideen, Technologien und Prozesse unter realistischen Bedingungen zu erforschen, erproben und zu entwickeln. Warum das wichtig ist, zeigt der Blick in die Technik- und Innovationsgeschichte. Ein berühmtes Beispiel ist etwa das Videoaufzeichnungssystem Betamax. Obwohl das System der vom Konkurrenten JVC entwickelten VHS technisch überlegen war, setzte es sich nicht auf dem Markt durch. Der Grund: Während Sony keine Lizenzen vergab, baute JVC ein Netzwerk mit Partnern auf, sodass es rasch viele unterschiedliche Filme im VHS-Format gab. Sony lernte jedoch aus dieser Erfahrung und kooperierte bei der Einführung der CD eng mit der Musikindustrie, weshalb sich die CD rasch durchsetzen konnte.

Legendär ist auch das Beispiel der Datenbrille von Google. Die „Google Glass“ genannte Innovation stellte das Internet und andere digitale Dienste auf der Innenseite der durchsichtigen Datenbrille zur Verfügung. Das Sichtfeld der Nutzerinnen und Nutzer wurde so um eine virtuelle Ebene erweitert. Nach ersten Testläufen in Kalifornien stellte Google das Projekt jedoch rasch ein. Zum einen gab es technische Schwierigkeiten, wie etwa eine Überhitzung des Geräts. Vor allem aber hatte Google nicht beachtet, wie die Datenbrille im Alltag von anderen Menschen wahrgenommen wird. Viele Menschen fürchteten, ständig von Google-Glass-Trägern fotografiert und überwacht zu werden. Zudem machten die Träger und Trägerinnen den Eindruck, nie wirklich anwesend zu sein. Überliefert ist, dass einige Restaurants und Bars in San Francisco bereits am Eingang mit Schildern darauf hinwiesen, keine Google Glass in ihren Räumen zu dulden.

Die beiden Beispiele stehen für die Erfahrung, dass die Einführung neuer Technologien nicht auf ihre technische Fortschrittlichkeit zu reduzieren ist. Wie Innovationen in der Praxis genutzt werden und wie sich die Nutzung auf das Miteinander von Menschen auswirkt, ist für deren Durchsetzung ebenso wichtig wie die Technik selbst. Durch die Forderung nachhaltiger Entwicklungen, die sowohl den Menschen als auch der Wirtschaft sowie der Umwelt zugutekommen, werden die Anforderungen an die Einführung von Innovationen noch einmal erweitert. Methoden wie Feldtests, Modellierungen oder die Arbeit mit Demonstratoren oder Prototypen stoßen hier deutlich an ihre Grenzen. Um die Komplexität der Dimensionen Technik, Mensch, Wirtschaft und Umwelt bei der Entwicklung und Einführung von Innovati-onen zu berücksichtigen, setzt sich daher mehr und mehr das Instrument des Reallabors durch.  


Was Reallabore auszeichnet

Mit konventionellen Laboren haben Reallabore gemeinsam, dass sie kontrollierte Untersuchungen des Forschungs- und Entwicklungsgegenstandes zulassen. Während es im klassischen Labor jedoch darum geht, dabei Störfaktoren so weit wie möglich auszuschließen, sind Reallabore für solche Störfaktoren offen und nutzen sie sogar gezielt, um Erkenntnisse zu gewinnen – ganz im Sinne einer Open Innovation. Das Instrument ist daher ideal für alle Untersuchungen, in denen Eingriffe in komplexe Systeme ver-standen werden sollen. Das ist bei fast allen Innovationen digitaler Technologien der Fall: Sie greifen in komplexe Systeme ein wie beispielsweise Energieversorgung, Mobilität, Produktion oder Logistik.

Ein aktuelles Beispiel aus Baden-Württemberg ist das Projekt RABus. Es erprobt den Einsatz hoch- und vollautomatisierter Fahrzeuge im Realbetrieb des ÖPNV in Mannheim und Friedrichshafen. Zu den Projektzielen gehört nicht nur die Bewertung der technischen Umsetzung, sondern vor allem auch die Beantwortung einer Reihe weiterer Fragen: Wie werden die neuen Fahrzeuge genutzt? Wie hoch ist ihre Akzeptanz bei den unterschiedlichen Verkehrsteilnehmern? Wie zuverlässig und wirtschaftlich laufen sie im Betrieb? Von besonderer Bedeutung ist zudem die Klärung der rechtlichen Ausgestaltung des Einsatzes der Fahrzeuge. Diese lässt sich jedoch meist erst mit Blick auf die Wirkungen der Innovation klären.

Zu den wesentlichen Merkmalen von Reallaboren gehört daher auch, dass sie rechtliche Spielräume gewähren. Die Reallabore-Strategie des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWi) sieht in „Experimentierklauseln und Ausnahmeregelungen“ denn auch zentrale Bausteine von Reallaboren. In ihrer Summe tragen Reallabore damit dazu bei, einen rechtlichen Rahmen für die digitale Welt von morgen zu schaffen.


Vorteile von Reallaboren

In konventionellen Laboren bleiben Experten meist unter sich. Das Reallabor lebt dagegen vom vielseitigen Austausch. Zum einen arbeiten im Reallabor Experten unterschiedlicher Disziplinen (interdisziplinär) miteinander, zum anderen lassen sich Stakeholder einbinden, sodass diese sich in die Entwicklung bzw. Ausgestaltung der Innovation und der damit verbundenen Prozesse einbringen. Die Einbindung von Nicht-Experten im Reallabor wird als „Transdisziplinarität“ bezeichnet. Sie ergänzt das interdisziplinäre Vorgehen und ist vor allem dort wichtig, wo mit Widerständen gegen die Innovation zu rechnen ist. In der Zusammenarbeit mit Vertretern der Zivilgesellschaft können in Reallaboren früh Wege ermittelt werden, die zu einer hohen Akzeptanz der Innovation führen.

Beispielhaft dafür steht ein Projekt wie C/sells. In einem Reallabor wird darin erforscht, wie ein dezentrales Energiesystem für Baden-Württemberg, Bayern und Hessen auf der Basis regenerativer Stromquellen gestaltet werden kann. Zentrale Idee des Projektes ist es, das Energiesystem in Zellen aufzuteilen, die sich miteinander nach Bedarf vernetzen können. Auch Bürger und Bürgerinnen können sich mit ihren Solar- oder auch Windkraftanlagen an diesen Zellen beteiligen und durch entsprechende Geschäftsmodelle als „Prosumenten“ (Produzent und Konsument von Energie) wirtschaftlich von der Energiewende profitieren.

Das Projekt bringt nicht nur unterschiedliche Experten aus den Bereichen IT, Netz- und Messtechnik sowie vieler weitere Disziplinen zusammen, sondern ermöglicht durch Bürgerpartizipation auch, eine Blaupause und Best Practices für ein solch intelligentes Energiesystem zu entwickeln. Für viele Unternehmen kommt hinzu, dass sie in Reallaboren die Zusammenarbeit mit öffentlichen Akteuren wie Kommunen, Landkreisen, öffentlich-rechtlichen Institutionen und ähnlichen erproben können. Ein weiterer Anreiz für die Nutzung von Reallaboren ist, dass sie häufig aus einer Mischung aus öffentlichen Geldern und Drittmitteln finanziert werden. Nicht zuletzt schaffen sie die Möglichkeit, mit anderen Unterneh-men zu kooperieren, zum Beispiel im Rahmen eines kollaborativen Engineerings, sodass solche Kooperationen erst einmal befristet über ein konkretes Projekt ausprobiert werden können.