Wie in vielen anderen Wirtschaftszweigen stellt sich auch bei der Digitalisierung des Schienenverkehrs die Herausforderung, die vorhandene analoge Infrastruktur digital umzurüsten. Im über 33.000 Kilometer langen deutschen Schienennetz treffen unterschiedliche Techniken aus mehreren Jahrzehnten aufeinander, mitunter sind sogar noch Technologien aus der Kaiserzeit im Einsatz. Blickt man über die deutschen Grenzen hinaus, kommen weitere Systeme dazu, die beim internationalen Einsatz von Zügen mitbedacht werden müssen: Es herrscht ein regelrechtes Wirrwarr an unterschiedlichen Strom-, Funk-, Kommunikations- und Zugbeeinflussungssystemen. Letztgenannte sind für den Schienenverkehr besonders wichtig, da sie sowohl die Sicherheit auf den Schienen gewährleisten als auch die Taktung der auf einer Strecke eingesetzten Züge bestimmen.

Bereits seit den 1990er Jahren gibt es daher Bemühungen, einheitliche Systeme zu entwickeln und auf europäischer Ebene umzusetzen. 2005 unterzeichneten die Europäische Kommission und Vertreter aus Industrie, Infrastrukturbetreiber und Eisenbahnunternehmen in Brüssel eine entsprechende Absichtserklärung, die die Einführung des europäischen Eisenbahnverkehrsleitsystems ERTMS (European Rail Traffic Management System) vorsieht. Dieses besteht im Wesentlichen aus einem gemeinsam Funkstandard (GSM-R) sowie dem European Train Control System (ETCS).

Um den zukünftigen Anforderungen des Schienenverkehrs gerecht zu werden, sind deutliche Leistungssteigerungen erforderlich. Des Weiteren gilt es die Verfügbarkeit und Zuverlässigkeit zu erhöhen sowie die Wirtschaftlichkeit und Interoperabilität zu verbessern. Die Modernisierung der Leit-, und Sicherungstechnik (mit ETCS), Digitalen Stellwerken (DTSW), der dadurch mögliche hochautomatisierte Bahnbetrieb (ATO GoA 2 – Automatic Train Operation Grade of Automation 2) und die darauf aufbauende mögliche Nutzung von weiteren ERTMS-Systemkomponenten leisten hierzu einen maßgeblichen Beitrag. Durch die Umsetzung von ETCS wird ein Trägersystem geschaffen, welches den Ausgangspunkt für die Digitalisierung des Systems Bahn darstellen wird (siehe Abbildung 1). Im Rahmen des Programms „Digitale Schiene Deutschland“ soll diese Zielstellung schnellstmöglich in die Realität umgesetzt werden. Hierzu wurde die Digitale Schiene Deutschland GmbH gegründet. Vertreter aus Verbänden, von Eisenbahnverkehrsunternehmen sowie der Bahnindustrie arbeiten eng zusammen und koordinieren bereits erste Projekte um einen flächendeckenden bundesweiten ERTMS-Rollout zu ermöglichen.

Das Programm „Digitale Schiene Deutschland“ der Deutschen Bahn AG

Dieses Bild zeigt die Maßnahmen zur Digitalisierung des Bahnsystems.
Abbildung 1: Digitalisierung des Bahnsystems

Das Programm „Digitale Schiene Deutschland“ hat das Ziel, das gesamte deutsche Streckennetz mit neuer Leit- und Sicherungstechnik (ETCS) in Verbindung mit Digitalen Stellwerken (DSTW) auszustatten. Mit der Unterzeichnung des Memorandum of Understanding (MoU) „Beschleunigter Start der DSD-Infrastrukturausrüstung“ haben sich der Bund, das Eisenbahn-Bundesamt (EBA), der Verband der Bahnindustrie in Deutschland e.V. (VDB) und die Deutsche Bahn AG im September 2020 darauf verständigt, den Abschluss des bundesweiten Rollouts der „Digitalen Schiene Deutschland“ (DSD) zur Erreichung verkehrs- und klimapolitischer Ziele sowie zur Stärkung des Standorts Deutschland bis zum Jahr 2035 abzuschließen. Bis dahin soll das gesamte deutsche Streckennetz mit einer digitalen Leit- und Sicherungstechnik ausgerüstet werden und entsprechend auch die Fahrzeuge dahingehend umgerüstet sein.

Dieses Bild zeigt das Zielbild der Digitalen Schiene Deutschland und die damit einhergehenden Verbesserungen in den Bereichen Zuverlässigkeit, Kapazität und Effizienz.
Abbildung 2: Zielbild Digitale Schiene Deutschland

Mit der damit einhergehenden Ablösung von störungsanfälligen Altstellwerken wird wie in Abbildung 2 ersichtlich, die Zuverlässigkeit des Systems Bahn durch weniger Ausfälle, schnellere Reaktionszeiten auf Störungen sowie der Steigerung der Pünktlichkeit, bei gleichzeitiger Reduktion der Unterhaltskosten, erhöht. Darüber hinaus wird eine Kapazitätssteigerung erreicht, ganz ohne den zeit- und kostenintensiven Bau von neuer Infrastruktur. Durch einen hochautomatisierten Betrieb der Züge, dem Automatic Train Control (ATO GoA 2), und einer intelligenten Verkehrssteuerung führt dies zu einer Kapazitätssteigerung von mehr als 20 Prozent.

Dieses Bild zeigt das erste betrieblich-technische Zielbild (BTZ 1.0) der Digitalen Schiene Deutschland.
Abbildung 3: Erstes betrieblich-technisches Zielbild (BTZ 1.0) der Digitalen Schiene Deutschland

Um dieses Zielbild zu erreichen, ist im Masterplan des Schienenverkehrs verankert, dass für alle Neu-, Umrüst- und Ausbauvorhaben die Ausrüstung mit ETCS und DSTW als Standard zu betrachten ist. Aufgrund einer durch den Bund beauftragten Machbarkeitsstudie ist bereits das sogenannte Starterpaket, welches drei zukunftsweisende Projekte beinhaltet, auf den Weg gebracht. Das Starterpaket umfasst die Digitalisierung des Knotens Stuttgart, der Schnellfahrstrecke Köln - Rhein/Main und der deutschen Bahnstrecken des TEN-Korridors Skandinavien-Mittelmeer.

Der Digitale Knoten Stuttgart (DKS) ergänzt das Projekt Stuttgart 21 um neue digitale Leit- und Sicherungstechnik und dient als Pilot- und Leuchtturmprojekt für den bundesweiten DSD-Rollout.  Auf Grundlage der „Untersuchung zur Einführung von ETCS im Kernnetz der S-Bahn Stuttgart“, die durch das Ministerium für Verkehr Baden-Württemberg, der DB Netz AG und dem Verband Region Stuttgart gemeinsam in Auftrag gegeben wurde, wurde im Jahr 2019 beschlossen, dieses Vorhaben umzusetzen. Das Projekt besteht aus insgesamt drei Bausteinen (siehe Abbildung 4). Die Bausteine 1 und 2 werden zusammen mit Stuttgart 21 bis zum Jahr 2025 umgesetzt und beinhalten die Ausrüstung der Strecken im DKS mit ETCS und Digitalen Stellwerken. Entsprechend müssen die im Knoten fahrenden Fahrzeuge ebenfalls mit ETCS und ATO ausgerüstet sein und daher größtenteils nachgerüstet werden. Nachgelagert erfolgt im Anschluss daran bis 2030 die Umsetzung des Bausteins 3, der die Digitalisierung ins Umland des Knotens ausweitet und technisch - entsprechend des in Abbildung 3 dargestellten betrieblich-technisches Zielbildes - über ETCS und DSTWs hinausgeht.
 

Dieses Bild zeigt die Drei-Baustein-Strategie des Digitalen Knotens Stuttgart.
Abbildung 4: Drei-Bausteine des DKS

ETCS als Trägersystem für die Digitalisierung der Schiene

ETCS als neue Leit- und Sicherungstechnik dient als Trägersystem zur Leistungssteigerung im Schienenverkehr. Dieses Trägersystem bildet die Grundvoraussetzung um in der Zukunft hochautomatisiert (ATO Grade of Automation GoA2) fahren zu können. Darüber hinaus können weitere Potenziale ausgeschöpft werden. In Verbindung mit einem kapazitätssteigernden Verkehrsleitsystem (CTMS – Capacity Traffic Management System) und digitaler Stellwerkstechnik (DSTW) kann die Leistungsfähigkeit der Schiene weiter erhöht werden.

Im Gegensatz zur heutigen Signalisierung wird der Zug im ETCS-Betrieb ständig überwacht. In Verbindung mit dem hochautomatisierten Fahren (ATO GoA 2) wird der Triebfahrzeugführer bei der Bewältigung seiner Aufgaben entlastet. Der Triebfahrzeugführer beschleunigt und bremst nicht mehr selbst, er übernimmt jedoch weiterhin die Beobachtung und Überwachung des Fahrwegs und greift bei Ausfällen manuell ein. Es ist ihm jederzeit möglich in das System einzugreifen und die Steuerung zu übernehmen. Entsprechend fallen bei ETCS je nach Ausprägungslevel (Level 2 ohne Signale, Level 3) die Signale entlang der Bahnstrecken weg, die bislang bestimmten, ob ein Zug halten, beschleunigen oder die Geschwindigkeit reduzieren soll.

Sowohl für ETCS als auch für ATO stehen Zug und Strecke über eine verschlüsselte Funkverbindung in kontinuierlichem Austausch. Die dauerhafte Übermittlung von Daten ermöglicht eine präzisere Steuerung des Bahnbetriebs. Um auch den Zugfunk auf europäischer Ebene zu harmonisieren, wurde vor drei Jahrzehnten im Rahmen der Einführung der Mobilkommunikation der Standard GSM-R geschaffen. Dieser baut auf dem weit verbreiteten Mobilfunkstandard auf, wurde jedoch bedarfsgerecht für die Schiene erweitert. Mit dem Future Railway Mobile Communication System (FRMCS) steht der Nachfolger von GSM-R bereits fest. Dieser Standard, der bis 2030 und somit mit dem 3. Baustein des Digitalen Knoten Stuttgart eingeführt wird, basiert auf der 5G-Technologie und ermöglicht eine schnelle Übertragung deutlich größerer Datenmengen.

Die Überwachung der Züge übernehmen ETCS-Streckenzentralen, englisch „Radio Block Center“, daher abgekürzt „RBC“. Die RBC stehen über GSM-R ständig in Kontakt mit dem Zug und können so automatisch eine Fahrterlaubnis erteilen. In den Gleisen liegende Kilometersteine (sog. Balisen) dienen unter anderem zur genauen Positionsbestimmung des Zuges. Der ETCS-Bordcomputer (EVC) im Fahrzeug kann so die Geschwindigkeit des Zuges mit den vom RBC übermittelten Daten (Positionsdaten, zulässige Geschwindigkeit) abgleichen und bei Bedarf anpassen. Abbildung 5 bietet einen Überblick über die einzelnen Komponenten des Digitalen Knoten Stuttgart.

 

Dieses Bild zeigt das Gesamtsystem mit ETCS Level 2, ATO GoA 2, (C)TMS & FRMCS.
Abbildung 5: Gesamtsystem mit ETCS Level 2, ATO GoA 2, (C)TMS & FRMCS, DB Projekt Stuttgart-Ulm GmbH

Die Digitalisierung der Schiene wird über das ETCS hinausführen müssen

Im Zuge des bundesweiten DSD-Rollouts sind Systemgrenzen zwingend zu vermeiden. Daher muss bei dem Rollout von ETCS auf die speziellen Anforderungen von Nebenbahnen und nichtbundeseigenen Eisenbahnen reagiert werden. Die Verlagerung von Infrastrukturelementen ins Fahrzeug könnte ein vielversprechender Ansatz zur Kostenreduktion sein. Es ist jedoch fraglich, ob die vielseitig kommunizierte Zielstellung des fahrerlosen Fahrens auf Nebenbahnen zu einer weiteren Kostenreduktion oder nicht vielmehr zu einer erheblichen fahrzeugseitigen Kostensteigerung führt.

Mit der Transformation der Städte und Regionen zu Smart Cities bzw. Smart Regions wird sich der Bahnverkehr weiter digitalisieren müssen. Künstliche Intelligenz wird auch hier zukünftig einen Beitrag leisten, um die weiter wachsenden Anforderungen zu erfüllen, sei es durch zusätzliche Mehrwerte wie die Trassenüberwachung, um den Triebfahrzeugführer zu entlasten, um die Ein- und Aussteigerströme am Bahnsteig mit dem Ziel kürzerer Fahrgastwechselzeiten bewusst zu steuern (Crowd Management), um das Störungsmanagement kundenfreundlich zu automatisieren oder um die verschiedenen Verkehrssysteme enger miteinander zu verbinden und Mobilitätsangebote zu bündeln.

Mit dem hochautomatisierten Fahrbetrieb (ATO GoA 2) wird ein Teil der Zukunftsvorstellung umgesetzt. In Abbildung 6 ist ersichtlich, dass Züge, die hochautomatisiert fahren, systemgesteuert bei einer Verspätung auf die mögliche Höchstgeschwindigkeit in einem Streckenabschnitt beschleunigen. Ist die Verspätung aufgeholt, fahren die Züge wieder mit der planmäßigen, energiesparenden Geschwindigkeit.

 

Dieses Bild zeigt den automatisierten Fahrbetrieb mit Triebfahrzeugführer.
Abbildung 6: Automatisierter Fahrbetrieb mit Triebfahrzeugführer (ATO GoA 2), DB Projekt Stuttgart-Ulm GmbH

Ein weiterer Blick in die Zukunft zeigt die Ergänzung des Bahnsystems mit dem Capacity Traffic Management Systems (CTMS). Der Betrieb mit CTMS in Verbindung mit ATO auf der Grundlage von ETCS bietet viele Vorteile. Unter anderem ermöglicht es zwei so intelligent gesteuerten Bahnen optimiert in den gleichen Streckenabschnitt einfahren zu lassen (siehe Abbildung 7). Der Energieverbrauch sowie die Verspätungszeiten können somit weiter minimiert werden. Darüber hinaus ermöglicht das System ein automatisiertes Störungsmanagement, welches dem Anspruch einer kundenfreundlichen Fahrgastinformation gerecht wird.

Dieses Bild zeigt den Vergleich der heutigen Situation mit dem Zielbild der Digitalen Schiene Deutschland unter Nutzung eines TMS.
Abbildung 7: Vergleich zwischen der heutigen Situation und dem Zielbild der Digitalen Schiene Deutschland unter Nutzung eines (C)TMS; DB Projekt Stuttgart-Ulm GmbH