Fast jede vierte Stelle könnte in Baden-Württemberg in Zukunft unbesetzt bleiben – zu dieser Prognose kamen Experten des baden-württembergischen Industrie- und Handelskammertags (BWIHK), die im Jahr 2035 mit rund einer Million weniger Fachkräfte rechnen. Sie gehen davon aus, dass die Branchen Einzelhandel, Fahrzeugbau und Maschinenbau besonders stark betroffen sein werden, wobei abermals der demografische Wandel als Haupttreiber für den Fachkräftemangel verantwortlich gemacht wird. Das Durchschnittsalter von Belegschaften steigt demnach in den kommenden 13 Jahren von 45 auf rund 49 Jahre. Bekanntermaßen stehen zudem besonders geburtenstarke Jahrgänge vor dem Ruhestand, was in den kommenden Jahren eine Lücke in die Belegschaft vieler Unternehmen reißen wird. Derweil konnten die Expertinnen und Experten des BWIHK auch einen Corona-Effekt identifizieren: Insbesondere in Branchen wie dem Einzelhandel oder in der Gastronomie, wo Betriebe schließen mussten oder die Arbeit nur unter eingeschränkten Bedingungen fortsetzen konnten, hat sich der Fachkräftemangel verstärkt, da sich viele Beschäftigte umorientiert haben.      

Zu ähnlichen Ergebnissen kam auch eine Umfrage des Verbandes Deutscher Maschinen- und Anlagebau (VDMA), bei der eine große Mehrheit der befragten Unternehmen bereits von Beschäftigungsengpässen berichtetet. Hier mache sich neben dem demografischen Wandel vor allem auch die Digitalisierung in Form von Themen wie Industrie 4.0 bemerkbar, durch die sich Prozesse und Berufsfelder aktuell stark veränderten, während es noch an den Fähigkeiten für diese entsprechenden neuen Gegebenheiten mangelt. Die Prognosen aus dem „Future of Jobs“-Reports des Weltwirtschaftsforums unterstreichen diese Erkenntnis: Demnach sollen bis zum Jahr 2025 in den 26 untersuchten Industrieländern rund 85 Millionen Arbeitsplätze entfallen – während 97 Millionen neue Jobs entstehen, für die wiederum zusätzliche Qualifikationen benötigt werden. Viele Unternehmen haben bereits verstanden, dass die Rekrutierung neuer Mitarbeitender nur ein Teil der Lösung sein kann. Die interne Weiterbildung oder Umschulung von Beschäftigten spielt eine mindestens ebenso wichtige Rolle, um den wachsenden Fachkräftemangel zu bewältigen. In der Politik werden hierfür bereits wichtige Weichen gestellt: Die Fachkräfteallianz Baden-Württemberg unter Vorsitz von Wirtschaft- und Arbeitsministerin Dr. Nicole Hoffmeister-Kraut stellt insgesamt 80 Mio. Euro für entsprechende Weiterbildungsmaßnahmen bereit. 

Unternehmen werben um Fachkräfte, nicht mehr umgekehrt

Dennoch ist der Fachkräftemangel weiterhin eine große Herausforderung, die Unternehmen nur erfolgreich bewältigen können, wenn sie ausgebildetes Personal als Kapital begreifen, das nur begrenzt zur Verfügung steht. Um Fachkräfte zu gewinnen und langfristig an sich zu binden, ist es wichtig, dass Arbeitgebende die Attraktivität ihrer Arbeitsplätze auf den Prüfstein stellen. Üppige Gehälter sind bekanntlich längst nicht mehr alles. Gut ausgebildete Arbeitnehmende wünschen sich in ihrem Job attraktive Rahmenbedingungen: Flexibilität hinsichtlich Arbeitszeiten und -orten, ein dynamisches Team, in dem Erfolge wertgeschätzt werden, und eine Unternehmenskultur, die die Gesundheit ihrer Mitarbeitenden, deren Zeit mit ihren Familien sowie Diversität und Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern aktiv fördert.  

Zudem wächst der Wunsch nach der sogenannten Demokratisierung der Unternehmen, die Mitarbeitenden mehr Transparenz, Mitspracherecht und Teilhabe ermöglicht. Expertinnen und Experten gehen davon aus, dass Arbeitnehmende in Zukunft verstärkt ihre Haltung gegenüber bestimmten Führungs- und Managementmodellen in ihre Entscheidung für oder gegen einen Arbeitgebenden mit einbeziehen. Baden-Württemberg stellt dafür aktiv Ressourcen und Mittel bereit, um Unternehmen bei der Gestaltung attraktiver Arbeitsplätze zu unterstützen: Initiativen wie familynet-bw dienen hier als beratende Anlaufstelle. 

Aktiv in Weiterbildung investieren – auch von älteren Mitarbeitenden

Essenziell für einen attraktiven Arbeitsplatz: Kontinuierliche Weiterbildung, die Mitarbeitenden das Gefühl gibt, voranzukommen und sich weiterzuentwickeln. Staatliche Anlaufstellen wie Schulen und Universitäten sind dabei längst nicht mehr die alleinigen Anbieter. Gerade in den USA lässt sich beobachten, dass immer mehr Unternehmen auf digitale Lernplattformen zurückgreifen, um ihre Mitarbeitenden kontinuierlich auf dem neusten Stand zu halten – sei es in Bereichen wie Organisation und Teamführung oder für spezifische fachliche und technische Kenntnisse. Die Weiterbildungsmaßnahmen können dabei als klare Win-Win-Situation betrachtet werden: Während für Angestellte ihre Arbeit attraktiver wird, profitieren Unternehmen von dem erlernten Knowhow – insbesondere in sehr technischen Bereichen wie IT- und Ingenieurswesen, wo Trends wie Industrie 4.0 rasant fortschreiten und stetig neue Lerninhalte hinzukommen. So entwickeln sich Bildungsmodelle zunehmend von der einmaligen, statischen Ausbildung hin zum lebenslangen Lernen weiter. 

Corona hat den Trend beschleunigt, dass entsprechende Seminare bequem von zuhause aus über digitale Kommunikationsplattformen, Videokonferenzsysteme oder dezidierte Lernnetzwerke in Anspruch genommen werden können. Weiterbildung ist demnach nicht mehr zwangsläufig mit großem (Reise-)Aufwand verbunden. Es kann sich deshalb auch lohnen, jene Mitarbeitende weiterzubilden, die bislang wenig derartige Beachtung bekommen haben, etwa Arbeitnehmende im fortgeschrittenen Alter. Bosch Management Service ist etwa dazu übergegangen, auch Mitarbeitenden im rentenfähigen Alter Möglichkeiten zur Weiterentwicklung anzubieten, sodass sie noch einmal neue Geschäftsfelder kennenlernen können – ein probates Mittel, um die Herausforderungen des Fachkräftemangels abzufedern. 

Attraktive Ausbildungsplätze unterstützen den Fachkräftebedarf 

Auch für die jungen Generationen ist noch Luft nach oben, was Ausbildungs- und Weiterbildungsmaßnahmen betrifft. Die Ausbildung muss wieder attraktiver und gleichzeitig spezifischer werden, um junge Menschen gezielt auf hochkomplexe Aufgabenfelder der Zukunft vorzubereiten. Dazu gehört etwa das Programmieren von Industrieanlagen. Die IHK Coburg hat ein innovatives Konzept entwickelt, um Fachkräfte für diesen speziellen Industriezweig auszubilden, weil viele Unternehmen aus dem Maschinen- und Anlagenbau von drohenden Personalengpässen berichten. Angehende Mechatroniker und Elektroniker für Betriebs- und Automatisierungstechnik können nun die Zusatzqualifikation „Industrieprogrammierung in der beruflichen Aus- und Weiterbildung“ erlangen. An dem 12-monatigen Pilotprojekt haben sich Ende vergangenen Jahres 25 Auszubildende sowie Fachkräfte beteiligt. Eine Fortsetzung ist für das Jahr 2022 geplant, wobei auch junge Facharbeiter mit Grundlagenkenntnissen in der Automatisierungstechnik und elektrischen Schaltungen hier die Möglichkeit bekommen, ihre Kompetenzen zu erweitern. 

Auch Immigration aus dem Ausland ist nach wie vor eine lukrative Quelle, um neue Fachkräfte zu gewinnen. Baden-Württemberg setzt hier bereits auf einige Initiativen, um Menschen aus anderen Ländern den Einstieg in die deutsche Wirtschaft zu erleichtern oder auch um Geflüchtete zu Fachkräften auszubilden. Die Welcome Center Baden-Württemberg beraten Unternehmen etwa dabei, wie Fachkräfte aus dem Ausland effektiv gewonnen werden können, welche Einreiseformalien zu beachten sind oder wie internationale Mitarbeitende idealerweise in die Unternehmen integriert werden können. Gleichzeitig werden auch die neuen Arbeitnehmenden selbst sowie deren Familien bei der Ankunft in Deutschland unterstützt. Derweil wurden im vergangenen Jahr bei einem zwölfmonatigen Qualifizierungskurs 15 Geflüchtete in der MEV-Eisenbahn-Verkehrsgesellschaft in Mannheim zu Triebfahrzeugführern ausgebildet, die dringend benötigt werden. Das Modellprojekt soll ausgebaut und um weitere Standorte ergänzt werden.

Bei der Weiterbildung strategisch vorgehen 

Ob für junge Berufseinsteiger oder Mitarbeitende im Rentenalter, deutsche oder internationale Fachkräfte – um Qualifizierungsmaßnahmen und Weiterbildungsangebote selbst erfolgreich umzusetzen, sollten Unternehmen strategisch vorgehen. Zunächst ist es wichtig, sich Transparenz über vorhandene bzw. fehlende Kompetenzen im Betrieb zu verschaffen. Nur so können Qualifizierungslücken sowie Potenziale erschlossen werden. Hier sollte auch die sogenannte Vorqualifizierung berücksichtigt werden – das bedeutet, dass Mitarbeitende, die Potenzial mitbringen und sich für einen neuen Aufgabenbereich interessieren, auch die Chance erhalten sollten, sich in diesem Arbeitsfeld auszuprobieren.   

Im Anschluss ist es wichtig, Lern- und Fortbildungsangebote auch tatsächlich in den Arbeitsalltag (digital) zu integrieren. Oft werden Weiterbildungsmaßnahmen als getrennt von der alltäglichen Arbeit wahrgenommen, weshalb Mitarbeitende keinen Bedarf sehen, sich proaktiv weiterzubilden. Weiterbildungsangebote setzen idealerweise genau bei den Aufgaben im betrieblichen Alltag an, wo sie gerade benötigt werden, und sind individuell auf den jeweiligen Mitarbeitenden zugeschnitten – sie können z.B. in individuellen Entwicklungsplänen festgehalten werden. Um entsprechende Pläne möglichst effizient und ressourcensparend umzusetzen, kann es sich für Unternehmen lohnen, auf sogenannte Lernmanagementsysteme (LMS) oder Learning Management Experience Plattformen (LMXP) zurückzugreifen. Damit lassen sich aufwändige administrative Aufgaben automatisieren, Qualifizierungen in der Belegschaft erfassen und gezielt und unkompliziert weiterentwickeln. Registrierungen zu Schulungen, der Versand von Schulungsmaterialien oder die Aufzeichnung und Bereitstellung von Lektionen kann durch solche Lösungen erheblich vereinfacht werden.  

Wie auch immer Unternehmen ihre Weiterbildungsmaßnahmen umsetzen möchten, es ist wichtig, dass sie möglichst sofort damit beginnen, denn die Integration von Fortbildungs- oder Umschulungsangeboten wird zunehmend unabdinglich, um auch in Zukunft wettbewerbsfähig zu bleiben. Wenn Qualifizierungsprogramme mit Elan und Bedacht umgesetzt werden, können sie einen Ausweg aus dem Fachkräftemangel ermöglichen.